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Die Aue - ein Ökosystem zwischen Überflutung und Trockenheit

Hier: Youtube Video zur Auendynamik

Dies ist ein überarbeiteter und gekürzter Auszug aus meinem Buch: Die Auwälder der Donau.

Infos hier

Das beständige Auf und Ab des Wasserspiegels, der Wechsel von Hoch- und Niedrigwasser, das sind die unverkennbaren Merkmale aller natürlichen Fließgewässer. Oft schwankt der Pegel nur um Zentimeter, aber niemals bleibt er über einen längeren Zeitraum wirklich konstant. Konstante Wasserstände sind die Ergebnisse menschlicher Eingriffe, erzwungen durch Stauwerke und Dämme (Vergleiche: Die Kanalisierung der Donau).

Die Schwankungen des Wasserstandes in naturbelassenen Bächen oder Flüssen beruht auf der unregelmäßigen Verteilung der Niederschläge. In vielen Regionen der Welt fallen und steigen die Flüsse im Takt aus Trocken- und Regenzeiten. Bei uns in Mitteleuropa verteilen sich die Niederschläge recht gleichmäßig im Jahresverlauf. Daher sind die jahreszeitlichen Unterschiede in der Wasserführung unserer Flüsse auch vergleichsweise gering. Allerdings verdunstet im Sommer weitaus mehr Wasser als im Winter. Dieser Verdunstungseffekt wird noch durch die erheblich gesteigerte Wasseraufnahme der Pflanzen während der Vegetationsperiode verstärkt. Daher führen unsere Flüsse – trotz geringer Unterschiede in der Niederschlagsverteilung – in der warmen Jahreszeit meist mehr Wasser als in der kalten. Hohe Pegelstände im Winter und geringe Wasserführung im Sommer: Diesem Muster folgen die Flüsse des Tieflandes und der Mittelgebirge, so wie die Oder, die Weser oder die Elbe.

Ist der Einfluss dieser jahreszeitlichen Komponente eher unbedeutend, so ist das Auftreten von außergewöhnlichen Hoch- oder Niedrigwassern immer von ungewöhnlichen Wetterereignissen bestimmt.  Starkregen oder lange Phasen mit ergiebigen Niederschlägen können zu jeder Jahreszeit auftreten, ebenso wie außerordentliche Trockenperioden. Für die meisten unserer Flüsse und Bäche gilt daher: Ausmaß und Eintreffen von Schwankungen des Wasserstandes sind unvorhersehbar.

Diese Aussagen gelten nur eingeschränkt für die Flüsse alpinen Ursprungs.  Sind die Niederschläge auch in den Nordalpen im Jahresverlauf weitgehend konstant, so führen alpine Flüsse wie Iller, Lech, Isar oder Inn in der kalten Jahreszeit doch deutlich weniger Wasser als im Sommer.  Die jahreszeitlichen Schwankungen dieser Flüsse sind zum einen viel ausgeprägter als bei den Flüssen des Flachlandes und der Mittelgebirge und das statistische Abflussverhalten folgt zum anderen einem genau entgegengesetzten Muster.

Dieser unverkennbare Takt der Pegelstände wird durch die Speicherung des winterlichen Niederschlages in Form von Schnee und das rasche Abtauen dieses gefrorenen Wasservorrates im Frühsommer verursacht. Im Winter ist der Abfluss alpiner Fließgewässer daher im statistischen Mittel gering, während die Pegel zur Schneeschmelze, meist also im Mai und Juni, hohe Wasserstände anzeigen. Dieses Muster wirkt sich bei Rhein und Donau, deren wasserreichsten Nebenflüsse alpinen Ursprungs sind, bis in die Unterläufe hinein aus. Aber auch bei alpinen Fließgewässern können Starkregenfälle oder unzeitiges Tauwetter zu außerordentlichen Überflutungen auch außerhalb der typischen Hochwasserperioden führen. So gilt für Fließgewässersysteme mit alpinem Einzugsgebiet:  Trotz eines jahreszeitlichen Musters aus Hochwasser im Frühsommer und Niedrigwasser im Winterhalbjahr können außergewöhnliche Wetterlagen auch zu untypischen Zeiten zu Überschwemmungen der Flusstäler führen. Weit häufiger als bei Flüssen des Tieflandes können zeitgleiche Ereignisse zu einer deutlichen Verstärkung des Effektes beitragen.

Wetterereignisse verändern zunächst den Wasserstand der unmittelbar betroffenen Bäche und Flüsse. In welchem Umfang auch die Pegel sich anschließender Wasserläufe beeinflusst werden, das entscheidet die Wasserbilanz an den Zusammenflüssen der Gewässer. Dort können sich Schwankungen der Wasserführung verstärken oder auch neutralisieren. Lokale Starkregenfälle, die in einem begrenzten Bereich des Gewässersystems durchaus für Überschwemmungen sorgen, können in den nachgeordneten Flüssen fast wirkungslos bleiben. Anders bei großräumigen Regenfällen oder beim Zusammentreffen von Tauwetter und Starkregen. Selbst wenn die Auswirkungen solcher meteorologischer Ereignisse in den Oberläufen der Gewässer noch recht harmlos erscheinen mögen, können sich die vereinten Wassermengen mehrerer Flüsse zu einer stattlichen Flutwelle auftürmen.

Tauwetter mitten im Winter, meist ausgelöst durch Regenfälle bis in hohe Gebirgslagen, führt oft zu solch außergewöhnlichen Hochwassern in Flüssen mit alpinem Einzugsgebiet. Eine solche Wettersituation tritt nicht selten Ende Dezember ein und wird daher spektakulär als Weihnachtshochwasser bezeichnet. Ebenso wie Flüsse bei Dauerregen unplanmäßig über die Ufer treten können, so verursacht ungewöhnliche Trockenheit oft Niedrigwasser.

Angaben zum Jahresverlauf von Pegelständen sind statistische Werte, Naturgesetze sind sie nicht. In den Flüssen und Bächen Mitteleuropas können Hoch- und Niedrigwasser zu jedem Zeitpunkt des Jahres auftreten, unabhängig davon, welchem Fließgewässertyp sie durch ihr Abflussverhalten zugeordnet werden. Hinzu kommt der Einfluss des Geländes. In einem steilen Tal ist die Amplitude der Schwankungen des Wasserstandes höher als in flachen Flusstälern, dafür entfalten Fluten in der Ebene eine größere Breitenwirkung. So entwickelt jeder Bach und jeder Fluss seine persönliche hydrologische Dynamik. Dieses Regime schwankender Wasserstände definiert einen Überflutungsbereich, der alle natürlichen Fließgewässer in unterschiedlicher Breite begleitet: die Aue.

Die Aue umfasst den gesamten durch Wasser beeinflussten Bereich entlang eines Flusses oder Baches. Auch die Gewässer selbst werden der Aue zugerechnet: Sie sind die Hauptschlagadern dieses ungewöhnlichen Ökosystems. Die Reichweite der Spitzenhochwasser, die vielleicht nur alle Jahrzehnte einmal auftreten, markiert die ökologische Außengrenze der Aue. Heute sind die Auen fast aller mitteleuropäischen Flüsse durch Dämme und andere wasserbauliche Maßnahmen stark eingeengt. Daher wird der Bereich eines Tales, der ohne den Eingriff des Menschen von Hochwassern erfasst würde, als potenzielle oder ursprüngliche Aue bezeichnet. Die Flächen der Talniederung, die bereits von den regelmäßigen Überflutungen abgekoppelt wurden, werden als Altaue bezeichnet. Den Uferbereich, der bis heute von Überschwemmungen erreicht werden kann, nennt man rezente Aue. Wenn überhaupt vorhanden, dann ist dieser Streifen schmal und umfasst nur wenige Meter zwischen Fluss und Deich, nur selten erreicht die rezente Aue bei mitteleuropäischen Flüssen noch eine Breite von einigen hundert Metern. So sind die einst mehrere Kilometer breiten Auen der Donau und des Rheines Geschichte.

Auch die natürliche Vegetation der Auen wurde durch menschliche Aktivitäten weitgehend zerstört. Bis auf kleine, auch naturgemäß nicht bewaldete Bereiche, waren die ursprünglichen Auen der mitteleuropäischen Flüsse von dichten Laubwäldern bedeckt. Dieser flächendeckende Auwald aus Eschen, Eichen und Ulmen wurde in den letzten Jahrhunderten fast vollständig von Wiesen, Weiden, Äckern, Siedlungen, Industrie- und Verkehrsflächen verdrängt. Die heute noch vorhandene Bewaldung wird zwar immer noch gerne als Auwald bezeichnet, ist aber von der Beschaffenheit und biologischen Vielfalt eines ursprünglichen Auwaldes meist weit entfernt.

Fast alle Wälder werden heute forstwirtschaftlich genutzt. Das gilt mit wenigen Ausnahmen auch für die Reste naturnaher Auwälder, die sich an den wenigen bis heute von Hochwasser geprägten Abschnitten unserer Flüsse halten konnten. Weil aber bei allen heimischen Flüssen die Pegelstände an irgendeiner Stelle durch Stauwerke reguliert werden, haben auch die letzten rezenten Auen ihre ursprüngliche Überflutungsdynamik verloren. So trocknen viele der verbliebenen und einstmals so weit verbreiteten Auwälder zunehmend aus. Das Vordringen der an geringe Bodenfeuchte angepassten Buchen in die Waldgesellschaften der Auen ist ein sichtbares Zeichen dieses Wassermangels, der allmählich die überflutungsresistente Vegetation und mit ihrer zugehörigen Fauna verdrängt.

Dabei ist das oberflächennahe Grundwasser für die ökologische Funktion der Aue ebenso wichtig wie die regelmäßigen Überschwemmungen. Grundwasser und Wasserläufe bilden in der Aue einen zusammenhängenden Wasserkörper. Gerade auf dem kiesigen Untergrund der Flusstäler der Donau und des Rheins und deren alpiner Nebenflüsse ist der Grundwasserspiegel eng an den Wasserstand des zugehörigen Fließgewässers gekoppelt. Dessen Schwankungen werden mit einer zeitlichen Verzögerung auf den Grundwasserspiegel übertragen. Auch die ausgedeichte Aue, also die Flächen jenseits der Dämme, kann durchaus noch über eine unterirdische Wasserverbindung zum Fluss verfügen. Ein hoher Grundwasserspiegel kann so eine Austrocknung der vom Fluss abgekoppelten Auwälder und damit ein Eindringen standortsfremder Pflanzen verzögern. Aber auch auf solchermaßen vernässten Standorten ist langfristig eine Veränderung der ursprünglichen Struktur und Ökologie der Auenbiotope nicht zu vermeiden, denn eine intakte Aue benötigt beides: Grundwasser und Überflutungen. Nur noch an wenigen Abschnitten entlang unserer Flüsse entwickeln sich Auen im freien Spiel einer einigermaßen natürlichen hydrologischen Dynamik. Wenn wir also von naturnahen Auen oder Auwäldern sprechen, dann sind dies nur noch die bescheidenen Reste eines einstmals üppigen Ökosystems.

 

Das Kloster Weltenburg bei Niedrigwasser. Weil an dieser Stelle der Donau auf den sonst üblichen Hochwasserschutz verzichtet wurde, ist dies eine der wenigen Abschnitte des Flusses, an der noch Kiesbänke ausgebildet werden. Bei Hochwasser erreicht der Pegel oft die Grundmauern des Klosters. Weil beim Pfingsthochwasser 1999 der Pegel gar bis zur Mitte der Fenster des ersten Stockes reichte und Wasser den Innenhof und die untere Etage flutete, wird heute bei Gefahr ein mobiler Hochwasserschutz errichtet.

Ohne Dämme und technischen Hochwasserschutz kann die Donau, wie hier im Bereich der Isarmündung bei Deggendorf, noch ungehindert in die Aue fluten. Diese Überschwemmungen prägen die Ökologie einer intakten Auenlandschaft.

Durch die übliche technische Verbauung werden Hochwasser im Flusskanal gehalten. Die in den überflutungsgefährdeten Auen siedelnden Menschen samt ihres Besitzes und ihrer Infrastruktur bleiben geschützt und werden nur bei außergewöhnlichen Flutereignissen, so wie Pfingsten 1999, von Überschwemmungen heimgesucht. Allerdings trocknet nun die Aue aus und das artenreichste Ökosystem unserer Heimat verschwindet unaufhaltsam und unwiederbringlich.

Dieser idyllische Blick reicht von der Kante der Iller-Lech-Schotteplatten im Süden bis zu den Hängen der Schwäbischen Alb im Norden. Dazwischen das östliche Donauried bei Mertingen. Man mag es kaum glauben, aber bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurde diese Senke auf mehr als fünfzig Kilometer Länge und bis zu sechs Kilometern Breite regelmäßig von den Wassermassen der Donau überflutet. Früher gab es hier ein schier undurchdringliches Labyrinth aus Flussarmen, Altwassern, Kiesbänken, Weidengebüschen und weiten Auwäldern. Heute ersetzen Ackerland, Siedlungen, Straßen und Industrieflächen die einstige Wildnis. Die Donau besteht nur noch als Kanal. Die Entscheidungen sind gefallen und nicht wieder rückgängig zu machen. Aber auf den wenigen noch vorhandenen, einigermaßen naturnahen Flächen könnte wenigstens ein Teil der einstigen Artenvielfalt für künftige Generationen erhalten bleiben.