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Flüsse - der Infarkt der Lebensadern

Ob über dem Meer, den Binnengewässern oder dem Land, wo auch immer flüssiges Wasser an Luft grenzt, dort entsteht Wasserdampf. Es ist die Wärme der Sonne, welche die Verdunstung in Gang hält. Dies gilt auch für den Teil des Wassers, der über die Transpiration der Pflanzen in die Atmosphäre gelangt. Der Wasserdampf vereint sich zu Wolken, die aufsteigen und verweht werden, bis sie sich abkühlen und ihren Niederschlag abladen, sei es als Regen, Schnee, Hagel oder Nebel. Bäche und Flüsse sammeln die Niederschläge, die nicht gleich wieder verdunsten oder im Grundwasser versickern, und bringen sie zurück in die Weltmeere. Der Kreislauf beginnt von Neuem. So wurden die Flüsse mit der Abkühlung der Erde vor 4,2 Milliarden Jahren die Rohrleitungen eines globalen Wasserkreislaufes, der bis heute durch die Sonne angetrieben wird. Ohne diesen Wasserkreislauf gäbe es kein terrestrisches Leben. Mit der Besiedelung des Landes vor etwa 500 Millionen Jahren wurden Fließgewässer zu den Lebensadern der Natur. Und sie sind es bis heute, zumindest in den Teilen der Erde, in denen die Verdunstung geringer ist als die Menge des Niederschlages. Ohne sie gäbe es keine Auen, dieser amphibische Lebensraum in der Überschwemmungszone aller Bäche und Flüsse unserer Erde, der nicht nur bei uns das artenreichste Ökosystem darstellt.

 

Der Tana in Nordnorwegen - ein unberührter Fluss


Auch das Erscheinen des Menschen änderte zunächst nichts an dieser Situation, denn in den ersten Jahrhunderttausenden unserer Geschichte waren wir lediglich ein Teil der Nahrungskette - und das durchaus nicht immer an deren Spitze. Vor etwa 12000 Jahren nahm ganz langsam der Homo oeconomicus Gestalt an, die Form des Menschen, die durch Maximierung ihres Nutzens angetrieben wird und die kraft ihrer intellektuellen Fähigkeiten auch die nötigen Werkzeuge zur Veränderung der Umwelt in die Hand bekam. So entstanden die ersten Hochkulturen an den Ufern von Euphrat, Tigris und Nil. Die Menschen erkannten die lebensspendende Kraft der Flüsse, den Reichtum des angrenzenden Ackerlandes, die Möglichkeiten der Bewässerung und die Eignung als Transportweg.

Die Kraft der Sonne vermag Wasser vom Meer bis in die Gebirge zu transportieren. So entsteht mechanische Energie, die durch das zurückströmende Wasser ökonomisch nutzbar wird. Auch dieser Zusammenhang blieb unseren erfindungsreichen Vorfahren nicht verborgen. Auch den Überschwemmungen, die Siedlungen gefährden und Ackerland überfluten, konnte durch Einsatz von Technologie - Flussbegradigungen und Eindeichungen - zumindest teilweise der Schrecken genommen werden. So gelang dem heutigen Menschen nun beides: die Eindämmung der unberechenbaren Fluten unserer Flüsse und die konsequente Nutzung der Wasserkraft. In allen dicht besiedelten Industriestaaten war dies das Ende der lebendigen Flüsse. An deutschen Flüssen wird das technische Potenzial der Energiegewinnung bereits bis auf einen winzigen Rest genutzt. Neben der Stromerzeuigung dienen unsere Flüsse als Wirtschaftsachse, Verkehrsweg, Trinkwasserreservoir oder Kraftwerkskühler. An ihren Ufern reihen sich Städte und Industriegebiete. Eingedeicht, aufgestaut, überbrückt und eingemauert sind unsere Flüsse dem Primat der Ökonomie ausgeliefert (siehe interner Link: Kanalisierung der Donau).

Die Seine in Paris - touristisch attraktiv, ökologisch zerstört


Gestalten natürliche Flüsse ihre Morphologie selbst, so haben wir nun selbst die Anpassung der Gewässer an unsere wirtschaftlichen Bedürfnisse in die Hand genommen - und die Lebensadern der Natur sind entweder versiegt oder stehen kurz vor dem Infarkt.

Man kann die Fehler der Vergangenheit nicht ungeschehen machen und niemand will ernsthaft die wirtschaftliche Weiterentwicklung stoppen, aber die Richtung muss sich ändern. Das Zauberwort heißt Nachhaltigkeit - ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung ja, aber unter gleichberechtigter Berücksichtigung der Umwelt. Nachhaltige Entwicklung setzt auf den Erhalt und die Verbesserung der Leistungsfähigkeit natürlicher Systeme. Die langfristige Entkopplung wirtschaftlichen Fortschritts vom Verbrauch natürlicher Ressourcen ist die letzte Chance für unsere Fließgewässer. Ein funktionsfähiges Flussökosystem ist kein Selbstzweck, sondern bildet die Voraussetzung für die Erfüllung der Aufgaben, die wir dem Fluss auch weiterhin abverlangen wollen. Und zunehmend sind dies Funktionen, bei denen sich ökologische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Interessen decken: Stabilisierung des Wasserhaushalts, Gewinnung von Trinkwasser oder Naturerleben und Erholung für eine urbanisierte Gesellschaft - Aufgaben, die nur ein ökologisch gesunder Fluss leisten kann. Daher besteht Einigkeit: Wir haben unseren Flüssen zu viele Aufgaben aufgebürdet, das muss sich ändern. Aber das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit erscheint oft halbherzig und Appelle des Naturschutzes finden selbst in der interessierten Öffentlichkeit wenig Gehör.

Dieses Desinteresse hat Gründe: Als Landbewohner erscheint uns die Unterwasserwelt nämlich fremd, fern und unnahbar. Wir erleben die Wasseroberfläche als eine Barriere, die unseren üblichen Sicht- und Erfahrungsraum begrenzt. So bleiben uns die Bedürfnisse der aquatischen Organismen ebenso verborgen wie die Schäden, die wir ihrem Lebensraum mit unseren Aktivitäten zufügen. Wagen wir also einen Blick unter die Wasseroberfläche, dem Lebensraum Fluss.