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Nahrungsketten

Bis vor gut zwei Milliarden Jahren war die Erde ausschließlich von Bakterien bevölkert, die ihre Energie aus der Umsetzung von Eisen- oder Schwefelsalzen zogen. Dann betraten die Cyanobakterien mit einer neuen Technologie das Spielfeld. Sie zogen die Energie für den Betrieb ihres Stoffwechsels aus dem Sonnenlicht. Und mehr noch, mit der im Überschuss produzierten Energie gelang es ihnen, das überall verfügbare Kohlenstoffdioxid in ein energiereiches Produkt zu verwandeln: die Glukose. Dieser Zucker ist das Ausgangsmaterial für alle Kohlenwasserstoffe, insbesondere für die pflanzlichen Speicherstoffe Stärke und Zellulose. Und Glukose ist der Grundstoff für die Produktion aller anderen Biomoleküle, aus denen sich Organismen zusammensetzen. Die Verknüpfung der Energiegewinnung aus dem überall verfügbaren Sonnenlicht mit der Nutzung des atmosphärischen Kohlenstoffdioxids als Kohlenstoffquelle für die Herstellung organischer Moleküle war der geniale Schritt, der das Leben unabhängig von den lokal begrenzten Energiequellen der archaischen Bakterienwelt machte. Plötzlich konnten sich Organismen über die Ozeane und später auch über die gesamte Erdoberfläche ausbreiten. Die Cyanobakterien, die missverständlich auch als Blaualgen bezeichnet werden, übertrugen das Erfolgskonzept der Photosynthese zunächst auf einzellige Grünalgen. Dabei haben diese gleich die kompletten Bakterien in die Zelle eingebaut, sie gewissermaßen als winzige Sonnenkraftwerke in ihren Organismus integriert. Als Chloroplasten sind diese ehemaligen Bakterien nun fester Bestandteil aller Licht absorbierenden Pflanzenzellen.

Bis auf exotische Ausnahmen basieren alle Ökosysteme auf der Biomasseproduktion photosynthetischer Bakterien und Pflanzen. Diese Organismen werden daher als Produzenten bezeichnet. Tiere sind entweder direkt oder indirekt auf pflanzliche Ernährung angewiesen. Und ebenso Pilze, die übrigens näher mit den Tieren als mit den Pflanzen verwandt sind. Tiere und Pilze decken ihren Bedarf an Kohlenstoff und chemischer Energie aus pflanzlicher Produktion: Sie sind die Konsumenten. Diese Gruppe kann noch in Pflanzenfresser (Primärkonsumenten) und Räuber (Sekundärkonsumenten) eingeteilt werden. Auch Letztere sind über den Weg ihrer Beute von pflanzlicher Primärproduktion abhängig. Dies gilt auch für Allesfresser, die keiner dieser beiden Gruppen klar zugeordnet werden können.

Letztlich beenden alle Organismen ihr Leben als Ausscheidungsprodukt, als Leiche oder Kompost. Für die Beseitigung pflanzlicher und tierischer Überreste fühlt sich eine uns meist verborgene Gesellschaft spezialisierter Lebewesen verantwortlich, die Destruenten oder Zersetzer. Zu diesen zählen viele einzellige Urtierchen, Protozoen genannt, sowie Milben, Würmer, Aaskäfer, Insektenlarven, Muscheln oder Schnecken. Eine herausragende Rolle in der Abfallbeseitigung spielen Bakterien und Pilze. Als Alchimisten unter den Lebewesen können sie organische Materie vollständig in ihre mineralischen Bestandteile zerlegen und diese wieder für andere Organismen verfügbar machen. Man nennt sie daher auch Mineralisierer. Dieser Fluss der Nahrung von den Pflanzen als Primärproduzenten über die Konsumenten zu den Destruenten und Mineralisierern wird als Nahrungskette bezeichnet.

Dreh- und Angelpunkt aller Nahrungsbeziehungen eines Ökosystems ist die Versorgung mit lebensnotwendigen Rohstoffen und Energie. Die von den Pflanzen produzierten Biomoleküle enthalten die wichtigsten Rohstoffe für den Aufbau und Erhalt der Körperstrukturen und Lebensfunktionen der Konsumenten. Praktischerweise ist auch ein Teil der von den Pflanzen aufgewendeten Energie in den Biomolekülen gespeichert, sodass diese von den Konsumenten wieder mobilisiert werden kann. Der Weg der Nahrung durch die Nahrungskette ist daher mit dem Energiefluss gekoppelt. Jede Stoffumwandlung ist mit Energieverlusten verbunden. Jeder Organismus verbraucht den größten Teil der aufgenommen Energie für den Erhalt seiner eigenen Lebensfunktionen. Warmblüter leben besonders energieintensiv, denn sie setzen den wesentlichen Teil der aufgenommenen Kalorien für den Temperaturhaushalt ein. Sie können nur etwa zehn Prozent der aufgenommenen Nahrung in eigene Körpersubstanz umwandeln. Andere tierische Organismen sind etwas effizienter und erreichen Verwertungsquoten von bis zu vierzig Prozent. Die tatsächlichen quantitativen Zusammenhänge innerhalb ganzer Ökosysteme sind nur schwer zu erfassen. Es ist aber plausibel, dass auf jeder Verwertungsstufe der weitaus größte Teil der Biomasse in den Energiestoffwechsel der Organismen fließt und nur ein kleiner Teil in die Produktion eigener Körpermasse und Nachkommen.

Daraus folgt, dass der Umfang der pflanzlichen Primärproduktion sowohl die Masse (nicht unbedingt die Anzahl) der Herbivoren und Karnivoren beschränkt als auch die Länge der Nahrungskette. So kann eine jährliche pflanzliche Produktion von zehn Tonnen Trockenmasse pro Hektar, wie in einem typischen Waldökosystem, nur etwa eine Tonne Tiere und Pilze ernähren. So begrenzt die Primärproduktion die Sekundärproduktion. Da auch die Zahl der Fleischfresser wieder von der verfügbaren Biomasse der vorhandenen Vegetarier abhängt, begrenzt die geringe Verwertungsquote zwangsweise auch die Länge der Nahrungskette.

Streng genommen ist der Begriff der Nahrungskette missverständlich, weil er zu sehr die einseitig gerichtete Abhängigkeit betont. Der Ausdruck Nahrungsnetz wäre eher zutreffend, denn alle Organismen eines Ökosystems leben irgendwie in wechselseitiger Abhängigkeit. So sind grüne Pflanzen trotz ihrer Fähigkeit zur Photosynthese auf die Assistenz von Mikroorganismen, ganz besonders Stickstoff fixierender Bakterien, angewiesen. Ohne deren Leistungen könnten weder Pflanzen noch deren Konsumenten existieren. Obwohl die Atmosphäre zu achtzig Prozent aus Stickstoff besteht, ist an Biomoleküle gebundener Stickstoff ein so kostbares Gut, dass es in einem Ökosystem fast vollständig in einem Kreislaufsystem wiederverwertet wird. Solche wechselseitigen Abhängigkeiten halten viele Stoffkreisläufe in Gang. Nur die verwertbare Energie befindet sich in einem stetig abnehmenden Fluss durch alle Nahrungsbeziehungen. Weil der Energiegehalt mit jeder Umwandlung abnimmt, kämen Stoffkreisläufe schnell zum Erliegen, würde nicht die Sonne beständig neue Energie in das System einspeisen. Die Sonne ist die primäre Energiequelle aller Ökosysteme.

 

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